Welche Anknüpfungspunkte hat das Drama „Nathan der Weise“ aus dem 18. Jahrhundert in der heutigen Welt? Im Stück geht es um Konflikte zwischen jüdischen, muslimischen und christlichen Figuren zu Zeiten der Kreuzzüge in Jerusalem. Nathan ist ein jüdischer Kaufmann, sehr gebildet und klug. Seine christliche Adoptivtochter verliebt sich in einen Tempelritter, der von Nathan im Geist der Aufklärung erzogen wird; dieser lernt von Nathan, dass es auf die gute Tat ankommt, nicht auf die „richtige“ Religion. Im Lauf des Dramas stellt sich heraus, dass die Tochter und der Ritter Geschwister sind und obendrein Neffe und Nichte des Sultans Saladin. Am Ende steht die Utopie einer glücklichen Harmonie der Figuren aller Religionen.
Noch einmal: Was hat uns diese zugegebenermaßen unrealistische Story heute zu sagen? Schon immer war die Botschaft des Dramas, religiöse Toleranz zu üben, wichtiger als ihr Inhalt.
Um sich der Relevanz des Stücks in der heutigen Welt zu nähern, hat die Klasse 10b ein kleines, aber feines Museum besucht, das sich ihrem größten Sohn widmet: dem Humanisten Johannes Reuchlin. Dieser lebte im 15. und 16. Jahrhundert, war Jurist, Sprachforscher (Latein, Griechisch, Hebräisch) und beschäftigte sich mit der Frage der Religionen zueinander. Das hat er mit dem fiktiven Protagonisten aus „Nathan der Weise“ gemeinsam. Auf eine Einführung in das Leben und Werk des Humanisten erkundeten die Schülerinnen und Schüler auf eigene Faust das Museum und suchten sich Exponate beziehungsweise Informationen aus, die sie im Nachgang dem Rest der Klasse vorstellten. Es stellte sich heraus, dass abstrakte Begriffe wie Gerechtigkeit, Respekt, Freundschaft oder Freiheit nicht nur für uns wichtig sind, sondern auch in diesem bewegten Leben vor über 500 Jahren nicht minder eine wesentliche Rolle spielten. Außerdem hat die 10b die Pforzheimer Synagoge besucht – ein Akt der gelebten Toleranz und des praktizierten gegenseitigen Interesses füreinander. Immerhin gibt es in Pforzheim wie auch in Deutschland nur sehr wenige Juden, was dem latenten Vorhandensein von Feindschaft ihnen gegenüber jedoch leider keinerlei Abbruch tut. Wir lernten in der Synagoge allerlei Informationen rund um das Judentum als praktizierte Religion kennen, beispielsweise über Abläufe des Gottesdienstes oder über die Heterogenität der Pforzheimer jüdischen Gemeinde. Alle Fragen durften gestellt werden und wurden auch beantwortet, auch unter Staunen der Schüler: Eine ganze Thora-Rolle von Hand abzuschreiben, nötigt Respekt ab. Am Ende der Führung kam das Gespräch auf das eigene Erleben von Antisemitismus: Auch Michael, der uns durch die Synagoge geführt hat, erlebte dies am eigenen Leib.
Am Ende steht die Erkenntnis: „Nathan der Weise“ mag ein alter und heute schwer verständlicher Text sein – sein Anliegen ist 250 Jahre später jedoch immer noch aktuell. Weil die Utopie nicht Realität geworden ist, bleibt die Botschaft nicht weniger relevant.
Sebastian Barth